Reto Leuthold ist ein abstrakter Maler. Vielleicht malt er eine Art abstrakter Natur. Er weiss weder vorher, wie es aussehen soll, noch während des Malens, wohin er will. Es ist ein Vorgang aus Zufall und Eingriff. Das Schwierigste ist, zu entscheiden, wann das Werk vollendet ist.
Kandinsky bezeichnete abstrakte Malerei als die schwierigste Kunst: "Sie setzt voraus, dass man zeichnen kann, dass man hochsensibel für Komposition und Farbe ist und dass man ein echter Poet ist - das ist das Entscheidende.” (zitiert nach Gaby Reucher, Deutsche Welle, 4.12.2016). Andere sahen das anders: "Entweder ist die Mehrheit der Mitglieder dieser Vereinigung unheilbar geisteskrank, oder wir haben es mit einer Gruppe von skrupellosen Hochstaplern zu tun, die bestens um die Schwäche unserer Zeitgenossen für Sensationen wissen und versuchen, diese große Nachfrage zu nutzen” (Münchener Neueste Nachrichten 1911). Und immer wieder werden wir hören, dass “das auch ein Kind könne”. Und darauf werden wir antworten: “Es kann das eben gerade darum”. Die von den Zwängen des Gegenständlichen befreite abstrakte Malerei lässt Töne (!) und Materialität der Farben, deren Strukturen und Formen, ihre seelische Resonanz entfalten und die Künstlerin oder den Künstler in ihrem malerischen Prozess leiten. Es ist diese Interaktion zwischen dem Geist und den Tiefendomänen der Produzenten und den Bildungen auf der Leinwand, welche das Werk entstehen lässt. Zuletzt bleibt Kirkebys Frage: Denkt der Mensch über die Natur nach, oder denkt die Natur für den Menschen (Kristallgesicht, Bern/Berlin 1990). Kandinsky spricht von “Eindrücken innerer Natur” (Du spirituel dans l’art, et dans la peinture en particulier, 1910). Das Gesicht dieser Malerei scheint verrückt. Aber die abstrakte Malerei ver-rückt das scheinbar normale Aussehen unserer verrückten Welt, um ihre Verrückheit sichtbar zu machen. Entstellung als Methode (nach Günther Anders, Mensch ohne Welt, 1984). Wenn eine technische Schnittstelle eingeführt wird, entsteht unvermeidlich ein kognitiver Ueberhang, was nicht nur zu “Vergeistigung”, sondern ebenso sehr zu “Verkopfung” führen kann, zur Kunst als Konzept beziehungsweise zum Konzept als Kunst. Von hier zur transhumanen Augmentierung ist es dann vielleicht einmal nur noch ein kleiner Schritt ! Wir haben es mit dem einzigen integralen Ausdruck menschlicher Intelligenz zu tun, vergleichbar nur noch mit dem damit verschwisterten Medium der Musik. Mit seinen ersten Mustern artrein erdachter Konzeptkunst mochte sich Duchamp - ein vorzüglich kravatierter Schachspieler - noch über den Applaus biederer Kunstkenner mockieren. Warhol und Buren meinten es ernst und waren der Anlass, dass dieselben Kreise das Ende der Malerei kommen sahen. In seinem erstmals dergestalt betitelten Aufsatz zitiert Douglas Crimp (October 16, 1981) eine Arbeit des amerikanischen Malers Richard Hennessy (Artforum 1979), der ironischerweise gerade das erklärt, was Crimp abgeschafft sehen wollte und warum die Malerei als spezifisch menschliches Phänomen nicht untergehen würde ! Der Künstler gibt Einblick in seinen mindset, in dessen Umschreibung als Malerei, ohne Kodierungen durch eine reduzierende Variante von Wirklichkeit. |
Diese Unmittelbarkeit - ohne Kodes, ohne Uebersetzung, ohne Reduktion, ohne Erklärung - ist eine sensorische Vorgabe für das Gehirn der Betrachter, welcher unvermeidlich neurotransmittorische Vorgänge entsprechen. Wir wissen das: Malerei weitet den “Geist”. Ein weites Feld für psychiatrische und philosophische Fragen, deren sich die mittlerweile auch an den Kunsthochschulen betriebene Forschung vielleicht noch nicht in angemessenem Ausmass interdisziplinär bemächtigt hat. Wenn wir uns auch empirisch zu vermuten erlauben, dass hier ein tiefer Grund für den Aufschwung der Malerei in den vergangenen zwanzig Jahren zu finden wäre.
Wer wissen will, warum der Mensch ungeachtet der Absurdation seiner Existenz - der genetischen, der sozialen Grausamkeit - Generation für Generation ins Leben einzutreten vermag, eintreten will, studiert Philosophie, vielleicht Psychiatrie, oder aber (abstrakte) Malerei, für deren Wahrnehmung erst noch keine Verwortung nötig ist. Vergegenwärtigen Sie sich den Lebensweg von Edith Piaf - und Sie wissen, was ich meine. Man mag auch an späte “dunkle” Denksprüche von Heidegger denken: “Stammt der Mut des Denkens aus der Zumutung des Seyns, dann gedeiht die Sprache des Geschicks”. Oder - nochmals mit den Worten von Kandinsky (op.cit) - was die (abstrakte) Malerei zu leisten hat:…”restituer à la création artistique sa mission fondamentale qui lui paraît être de dévoiler l’ordre des choses, de constituer le langage suprême, celui qui se substitue aus mots impuissants”(der künstlerischen Kreation ihre grundlegende Aufgabe zurückgeben, welche in der Enthüllung der Ordnung der Dinge zu bestehen scheint, in der Erfindung der ultimativen Sprache, welche die wirkungslosen Worte zu ersetzen vermag). Und Gerhard Richter sagt in der Einleitung zum Katalog seiner Retrospektive in Museum of Modern Art in New York (2002): “At the end of the 1960s the art scene underwent its great politicization. Painting was taboo, because it had no ‘social relevance’ and was therefore a bourgeois thing”(Ende der 1960er Jahre erlebte die Kunstwelt ihre grosse Politisierung. Die Malerei war tabu, weil sie keine soziale Relevanz hatte und ihr deswegen ein bourgeoiser Geruch anhaftete). Man fragt sich, wo der kunstkritische Konsens heute steht. Dem Schreibenden ist nicht bekannt, ob Reto Leuthold diese Deklarationen kennt. Sein Werk steht aber offensichtlich in diesem Geist. Es ist eine ebenso wuchtige wie leichtfüssige Deambulation durch die Weiten der menschlichen Existenz, vorgetragen mit der nötigen Kraft, Konsequenz und Konsistenz. Leuthold glaubt kaum, “dass man die Menschheit durch die Malerei verändern könnte” (Gerhard Richter, Text 1961 bis 2007, Walther König 2008). Und dennoch stellt man sich diese Frage, wenn man sein Werk betrachtet ! Beat Selz, 18/07/18 |
Reto Leuthold
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