Er malt Aquarelle – also in Wasser gelöste Pigmente auf Papier – von Kalkfelsen in der Form von multiplen Zuckerhüten, in Fantasielandschaften. In Fabrikation und Anmutung ist das Aquarell nahe am Zeichnen mit <encre de Chine>, welche in der deutschen Sprache prosaisch als <Tusche> bezeichnet wird. In beiden Techniken gibt es keine Korrekturmöglichkeit – ein einmal ausgeführter Strich bleibt – was wieder in der französischen Sprache bezeichnet wird als <sans repentir>, deutsch: ohne Reue. Bevor der Künstler die Arbeit ausführt, muss sie weitgehend in seinem Kopf vorgebildet sein. Fotografische Vorlagen gibt es nicht. Es sind kalligraphische Kartographien, die über den Bildrand wuchern und an chinesische Rollbilder erinnern. Diese expansive Tendenz der imaginären Narration ist für den Künstler mittlerweile zum Element der Komposition geworden und trägt zum asiatischen Spirit dieser Arbeiten bei, zusammen mit dem Spiel mit dekorativen Einzelheiten, mit Formen und Relief, mit <clair-obscur>, aber ohne jede exakte naturgetreue Wiedergabe, vielmehr mit symbolischer, mythisch übersteigerter Anmutung, die beim Betrachter Empfindungen auslöst. Dasselbe gilt für den Wechsel von trockener, zeichnerischer Pinselführung und nasser Maltechnik, was ein Spiel von Schärfe bezeihungsweise Unschärfe und Kontur hervorbringt. Der Maler spricht nicht davon, aber es muss etwas mit dem (weichen, weiblichen) Yin-Prinzip und dem (harten, trockenen, männlichen) Yang zu tun haben. Eine wesentliche Abweichung von der chinesischen Landschaftsmalerei bildet demgegenüber die Behandlung der Farben. Auch hier wird nicht in erster Linie auf naturgetreue Wiedergabe geachtet, sondern auf Wirkung. Tertiäre Brauntöne im Stil der niederländischen Renaissancemalerei werden vermieden. Prominent eingesetzt werden Primär- und Sekundärfarben, was den Werken eine eigentümliche Leuchtkraft, ja teilweise eine fast “jenseitige” Ausstrahlung verleiht.
Ich gehe davon aus, dass der Künstler die Bauelemente seiner Arbeit a priori, intuitiv, erfunden hat, analog der Erfahrung, dass viele Erfindungen im Geist gemacht waren, bevor sie in die Realität umgesetzt wurden. Die Verwandschaft mit asiatischer Kunst könnte Strahm erst auf seinen ausgedehnten Reisen aufgegangen sein. Es ist die für den Verstand unbegreifbare Tatsächlichkeit des Lebens, die auch die Quelle der plastischen Kunst ist. Durch das Schaffen und Schauen des Schönen wird diese im Spiel der Erkenntniskräfte gegenwärtig (Jaspers über Kant). “Ich schreite eigentlich nicht zu einem andern Ding, sondern einer andern Art des Vernunftgebrauchs” (nochmals Kant). Strahm hat an der HEAD (Haut école d'art et de design) Genf abgeschlossen, zu einer Zeit, als an vielen Kunstschulen ebensosehr das Ende der Malerei als die Malerei selber vermittelt wurde. Er hatte sich jedoch bewusst an der HEAD beworben, weil das Bildungsangebot dieser Schule zwei Malateliers enthielt. In diesem Klima war es für Strahm wegweisend, in Professor Peter Roesch, dem Verantwortlichen des einen Malateliers, einen Lehrer zu finden, “qui tenait à privilégier l'honnêteté, le respect et la conscience du travail chez les étudiants et dans leur démarche, et qui, par conséquent, laissait toute la place possible à l'expérimentation en peinture” (der gegenüber seinen Studentinnen und Studenten, aber auch für deren Arbeit, Achtsamkeit, Respekt und Gewissen ins Zentrum stellte, und der in der Konsequenz der Experimentation in der Malerei allen erwünschten Raum liess). “Les deux ateliers fonctionnaient un peu comme un refuge pour les étudiants désireux de travailler en peinture au sein d'une école effectivement vouée à d'autres visées” (die beiden Ateliers funktionierten ein wenig wie ein Refugium für diejenigen Studentinnen und Studenten, welche in der Malerei zu arbeiten wünschten, innerhalb einer Schule, die in der Tat anderen Zielen verpflichtet war). Eindrücklich, wie in den abgelegenen Kalkbergen des Nordjuras Talent, Demut, Disziplin und Determination ein eigenständiges Werk von einer derartigen Wirkungsmacht hervorzubringen vermögen. Eine Ausstellung, die Sie nicht vergessen werden. Beat Selz |
Schon früh fasziniert von der Abbildung eines asiatischen Berges in einem Geographie-Atlas, begeistert sich Sébastien Strahm, im Gefolge mehrerer Reisen, für die Landschaft im Sinn einer kulturellen Thematik, nimmt doch deren Widergabe einen zentralen Platz in den pikturalen Traditionen des Fernen Ostens aber auch Europas ein.
Seit Lipe I (2016) mit einem grünen Berg im Sonnenuntergang, dessen Formen einer Fotografie nahe kommen, ähneln die vom Künstler dargestellten Inseln mehr den Darstellungen eines schwärmerischen Reisenden: Plaziert im Zentrum des Werks, welches aus einem bis neun Blättern bestehen kann, laden die Felsen – unerreichbar und geheimisvoll – zu aktiver Kontemplation ein, welche sich an die Myriade von Formen anlehnt, die ebenso in den Himmeln, in der Vegetation oder in den Spiegelungen des Wassers vorhanden sind. Im Stil eines Kaleidoskops, welches eine unendliche Zahl von Kombinationen ermöglicht, werden die Landschaften mit ihren eindringlichen Farben lebendig und entzücken stets von Neuem den Blick des Betrachters. In H.P.M. (2017), partizipieren diese dekorativen Motive vollumfänglich an der Komposition des Werks und eröffnen darüber hinaus eine persönlichere Lektüre der Empfindungen des reisenden Malers. Die geheimnisumwitterte Darstellung der Felseninsel wird noch verstärkt durch die Wahl der Materialien und der Formate. Die Verwendung von Büttenpapier, mit verformten Rändern, ermöglicht den Anklang an die Elemente, die in der Natur wirken: Im Aquarell verschwimmt das Blau der Lagune wie das Meer, das sich zurückzieht; in Stars (2017), erscheinen die Gestirne im Hintergrund als Reserve, unter drohenden Wolken, effektvoll wiedergegeben durch eine minutiöse Anwendung des reinfarbigen Malmittels mit dem Pinsel. Ob sie ein zusammengesetztes Rechteck bilden oder mit gerundeten Formen experimentieren, die Aquarelle von Sébastien Strahm dynamisieren die Wiedergabe von Landschaften und frischen sie auf, als feinfühlige und farbenfrohe Malerei. Jean Prétôt (deutsche Uebersetzung Beat Selz). |
Sébastien Strahm
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